Allgemein Rechte Gewalt

Strategie der Verteidigung im „Fretterode-Prozess“: Neonazis als Opfer

Mehr als drei Jahre ist es her, dass zwei Neonazis in Fretterode einen brutalen Überfall auf zwei Journalisten begingen. Am Landgericht Mühlhausen läuft seit September 2021 der Prozess. Kai Budler ist Journalist und Kenner der rechten Szene in Thüringen und darüber hinaus. Seit Beginn beobachtet er den „Fretterode-Prozess“ und berichtet hier über die Strategie der Verteidigung.

Wegen des brutalen Übergriffs auf zwei Journalisten müssen sich im „Fretterode Prozess“ seit September 2021 die Neonazis Gianluca Bruno und Nordulf Heise vor dem Landgericht Mühlhausen verantworten. In ihrer Anklageschrift wirft ihnen die Staatsanwaltschaft „gemeinschaftlich begangene Sachbeschädigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und schwerem Raub“ vor.

Gleich zu Beginn der Verhandlung legten die Angeklagten über ihre Szene-Anwälte Wolfram Narath und Klaus Kunze ihre Strategie dar. Ihre Erzählung: Sie wollen nicht die Täter, sondern die Opfer gewesen und von den Journalisten angegriffen worden seien. Dem Auto der Journalisten wollten sie langsam folgen, um sich das Nummernschild zu notieren.

Ihr Ziel: sie wollten den Journalisten verbieten, die gemachten Fotos zu veröffentlichen, weil auf Heises Grundstück lediglich ein ganz normaler Familiensonntag stattgefunden habe. Auch den ersten Hinweis der Staatsanwaltschaft gegenüber der Öffentlichkeit aus dem Jahr 2018, die von den Journalisten gefertigten Fotos ihrer Angreifer müssten erst einmal auf Manipulationen untersucht werden, griffen die Anwälte der Neonazis dankbar auf und mutmaßten im Gericht über Manipulationen der Bilder. Um die Legende zu unterstützen, die Angeklagten seien „ganz normale Bürger“, verzichtet die Neonazi-Szene, in der sie fest verankert sind, auf die sonst übliche Präsenz im Gerichtssaal. Auch ein von der Verteidigung als Zeuge geladener „unpolitischer Schulfreund“ von Nordulf Heise, der sich am Tattag auf Heises Grundstück befunden hatte, sollte diese Darstellung zementieren. Doch Fotos zeigen, dass der Auszubildende Ordner bei Thorsten Heises „Schild und Schwert“-Festival war. Andere Bilder zeigen ihn mit Bruno, den er nicht kennen wollte, bei einem Urlaub mit der Familie Heise in Griechenland. Dass es sich bei den Angaben der Angeklagten um offensichtliche Schutzbehauptungen handelt, wurde auch bei einem Ortstermin des Gerichts im Eichsfelddorf Fretterode deutlich. Um einer Verurteilung wegen schweren Raubes zu entgehen, hatten die Angeklagten verlauten lassen, sie wüssten nichts von der teuren Spiegelreflex-Kamera mit Teleobjektiv, deren Raub ihnen die Staatsanwaltschaft vorwirft. Doch die Betrachtung vor Ort fiel so eindeutig aus, dass das Gericht vor Ort Vergleichsaufnahmen mit verschiedenen Kameras ablehnte. Nordulf Heises Legende, die Journalisten hätten versucht, ihn in Fretterode zu überfahren, als er das Kennzeichen notieren wollte, brach beim Ortstermin ebenso in sich zusammen. Augenzeug:innen des Vorfalls wussten von einem angeblichen Überfahrversuch nichts und berichteten stattdessen von dem brutalen Angriff wie er auch in der Anklageschrift dargestellt wird. Fast überfahren worden wurde jedoch ein Fahrradfahrer, der am Ort des gewalttätigen Überfalls vorbeigekommen war. Doch am Steuer des Autos saßen nicht die Journalisten, die der Fahrradfahrer blutüberströmt an ihrem zerstörten Auto gesehen hatte. Es habe sich vielmehr um das Auto der Neonazis gehandelt, berichtete der Mann im Gericht.

Die Selbstinszenierung der Angeklagten als Opfer „linksextremistischer Gewalt“ im „Fretterode-Prozess“ wurde bislang von der Nebenklage erfolgreich als unglaubwürdige Schutzbehauptung demaskiert. Sie ist aber Teil einer Kampagne gegen Journalist:innen und die Zivilgesellschaft, die Neonazis in Thüringen seit längerem fahren.

Dazu gehört auch die Behauptung im Prozess, die Journalisten seien „Teil einer Vereinigung, deren Ziel es ist, Anschläge auf Personen und Sachen zu begehen“, wie Brunos Anwalt Kunze vor dem Landgericht erklärte. Im Klartext heißt das: die Nebenkläger sollen Heises Wohnort ausspioniert und einen Anschlag geplant haben. Dabei hatte der NPD-Funktionär und langjährig aktive Neonazi bei einer Veranstaltung der NPD in Niedersachsen kurz vor dem Überfall Journalisten als Hauptfeinde der extrem rechten Szene markiert. Unter den Zuhörer:innen befanden sich auch sein Sohn und Bruno. Ihre vermeintliche Opferrolle nehmen die Neonazis zum Anlass, von einem „Notwehrrecht“ zu sprechen, um im Zweifelsfall die Gewalt nur schlecht verklausuliert zu rechtfertigen. Dies gilt ebenfalls für die Reaktion der extrem rechten Szene auf Brände in Neonazi-Immobilien im vergangenen Jahr. Obwohl Ursachen und Täter:innen bis heute ungeklärt sind, nutzen die Neonazis sie, um gegen die Zivilgesellschaft in Thüringen und ihre Einrichtungen mobil zu machen. Schützenhilfe erhalten sie von Björn Höcke, dem Vorsitzenden der AfD-Landtagsfraktion, der eine „Terror-Serie“ halluziniert. In den sozialen Netzwerken stellt er die Frage: „Wurden die geistigen Brandstifter mit Landesmitteln gefördert?“ und illustriert sie mit einem Bild der Broschüre von MOBIT zu Immobilien der extrem rechten Szene in Thüringen. Nach seiner Logik sollen also jene die Verantwortung für die Brände tragen, die bereits vor Jahren auf die Gefahr hingewiesen haben, die von Immobilien der extremen Rechten ausgeht. Wie berechtigt diese Warnungen sind, hat der Überfall auf die zwei Journalisten erneut auf erschreckende Weise gezeigt.