Seit 2005 führt MOBIT eine Chronik extrem rechter Aktivitäten, um zu dokumentieren, wie die extreme Rechte agiert und – zumindest in der Tendenz – um Entwicklungen über die Jahre abzubilden. Die Quellen, aus denen sich die Chronik speist, sind ausschließlich öffentlich zugänglich. Im Schnitt dokumentierten wir dabei pro Jahr zwischen rund 300 bis zu etwas über 600 Veranstaltungen, Sachbeschädigungen, Konzerte usw. Die bisherigen Höhepunkte in den Jahren vor 2021 lagen bei 650 Aktivitäten pro Jahr. In den letzten Jahren hat sich die Zahl kontinuierlich erhöht: Dies lag zum einen am Auftreten der AfD1, die eine deutlich größere Zahl an Veranstaltungen durchführt, als es die NPD selbst zu ihren Hochzeiten jemals getan hat. Zum anderen liegt es an den sehr hohen Aktivitätszahlen der Pandemie-Leugner:innen-Szene, die teils pro Tag bis zu 80 Demonstrationen durchgeführt haben. Insgesamt wurden daher für das vergangene Jahr 1.755 extrem rechte Aktivitäten durch MOBIT in Thüringen erfasst.
Um auch zukünftig die Schwerpunkte extrem rechter Aktivitäten in Thüringen aufzuzeigen und zu dokumentieren, beginnen wir heute mit dem neuen Format: „Im Blick – Thüringens extrem rechte Szene“. Geplant ist ein vierteljährlicher Erscheinungsturnus der Dokumentation.
Neonazi-Szene: Zwischen RechtsRock, Demonstrationen und Militanz
Das Jahr 2022 hat seinen Mittelpunkt bereits überschritten. Immer noch ist der Kontext, in dem auch die extrem rechte Szene agiert, die Corona-Pandemie und seit Februar 2022 der Überfall Russlands auf die Ukraine und ein seither andauernder Krieg und dessen Auswirkungen in Europa. Auch in der Neonazi-Szene gab es seit Beginn des Ukraine-Krieges heftige Debatten über die Beurteilung der Lage. Besonders die antisemitischen Erklärungsmuster innerhalb der Neonazi-Szene stachen hervor. Im Kern wurden antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet, die als Verantwortliche für den Krieg vor allem geheime Mächte und jüdische Personen ausmachten. Ein großer Teil der in Thüringen ansässigen Neonazi-Gruppen, wie die Neue Stärke Partei oder Der Dritte Weg, positionierten sich deutlich pro-ukrainisch. Dies liegt offenbar auch an den seit Jahren bestehenden Kontakten zum bzw. in das Umfeld des Asow-Regimentes oder anderer Verbindungen zur Ukraine.
Durch die verschiedenen Streitigkeiten innerhalb der Neonazi-Szene zeigt sich diese im Freistaat deutlich zerrüttet. Neben Kameradschaftsstrukturen sind es vor allem die Parteien Der Dritte Weg, die NPD und die Neue Stärke Partei, die in Thüringen agieren.
Die Neonazi-Kleinstpartei Der Dritte Weg hatte bis 2020 seinen Aktivitätsschwerpunkt in Erfurtund verfügte hier auch über eine mehrere hundert Quadratmeter große Immobilie. Nach einer Abspaltung verlor die Organisation sowohl einen großen Teil ihrer Unterstützer als auch die Immobilie. Die Partei eröffnete in Ohrdruf im Februar 2022 ein neues Bürgerbüro, welches seither Ausgangspunkt verschiedener Aktivitäten ist. Dazu gehören „Bürgersprechstunden“ ebenso wie ein „Skat- und Dartabend“ oder die kostenlose Verteilung von Schulmaterial an „Deutsche“. In Ohrdruf ist es vor allem der Partei-Funktionär Max-Joseph Matthieß, der öffentlich wahrzunehmen ist. Dabei sind die Aktivitäten der Neonazi-Kleinstpartei stark auf den Landkreis Gotha und die angrenzende Landeshauptstadt Erfurt begrenzt. Dies dürfte nicht zuletzt auch an dem sehr überschaubaren Personalumfang der Partei liegen.
Durch eine Abspaltung im Jahr 2020/21 war aus dem Dritten Weg die Neonazi-Gruppe und später (November 2021) als Partei organisierte Neue Stärke Partei hervorgegangen. Die Gruppe rund um die Neonazis Michel Fischer und Enrico Biczysko hat in Thüringen ihre Aktivitätsschwerpunkte in Erfurt und Gera. Bei den Aktivitäten handelt es sich zumeist um die Durchführung von Infoständen, Demonstrationen und Familienfesten. Sowohl die Symbolik als auch das öffentlich-strategische Vorgehen ähnelt sehr deutlich denen des Dritten Weges. Nachdem die Neonazis der Neuen Stärke bereits Ende 2020 ihre Immobilie in Erfurt verloren hatten, gelang es ihnen bisher nicht, eine ähnlich nutzbare Immobilie anzumieten. Nach der Nutzung eines Lagerraumes gab die Partei die Anmietung eines rund 25qm großen Büros in einem Erfurter Außenbezirk bekannt, welches sich für Veranstaltungen kaum eignen dürfte und bereits vom Vermieter wieder gekündigt wurde. Die zentrale Demonstration der Neuen Stärke Partei findet jährlich am 1. Mai statt. Nach einem kurzen Mobilisierungshoch im Jahr 2021, als rund 300 Neonazis zur Demonstration nach Erfurt anreisten, geht die Mobilisierungskraft der Gruppe stetig zurück. Im August 2021 in Weimar und am 1. Mai 2022 in Erfurt konnte die Gruppe nur noch rund 130 Personen mobilisieren. Diese reisten vor allem aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen an.
Die Demonstration am 1. Mai 2022 zeigte neben der geringen bundesweiten Mobilisierungskraft der Neuen Stärke vor allem auch, welche Neonazi-Gruppierungen in den vorangegangenen Monaten in Thüringen entstanden sind und an der Demonstration teilnahmen. Dazu zählt beispielsweise die Gruppe „Treuebund“ aus dem Raum Sonneberg, die sich um die RechtsRock-Band Unbeliebte Jungs gesammelt hat. In einer von ihnen genutzten Immobilie in Sonneberg finden regelmäßig Treffen und auch Konzerte statt. Zuletzt konnte die Polizei im Juli ein unangemeldetes Konzert und Übergriffe verhindern. Neben dem „Treuebund“ nahm auch die Gruppe „Kollektiv – Zukunft schaffen – Heimat schützen“ an der Demonstration am 1.Mai 2022 in Erfurt teil und stellte auch einen Redner. Die Gruppe rekrutiert sich vor allem aus Neonazis aus dem Raum Coburg und verfügt über personellen Anschluss an die Neonazi-Band Sleipnir. Die Gruppe trat in den letzten Monaten öfter auch bei Demonstrationen der Neonazi-Szene in Thüringen auf und hat ebenfalls Verbindungen nach Sonneberg.
Die NPD ist als thüringenweit aktive Partei schon seit Jahren kaum noch wahrzunehmen. Ihr Aktivitätsschwerpunkt liegt in Eisenach, wo die Partei nicht nur eine ihrer Hochburgen hat (10,2%-Punkte bei der letzten Stadtratswahl), sondern seit 2014 auch über eine Landesgeschäftsstelle verfügt. Das Haus ist in den letzten Jahren ein zentraler Angelpunkt der regionalen und überregionalen Neonazi-Szene geworden. Hier fanden Konzerte, Vortragsabende, Discoparties und auch Kampfsporttrainings für die militante Kameradschaftsszene rund um die Gruppe „Knockout 51“ statt. Die Immobilie ist laut MOBIT-Zählung einer der meistgenutzten Räume der extrem rechten Szene im Freistaat. Anfang April kam es in Eisenach und anderen Städten zu Razzien und Festnahmen, welche der Generalbundesanwalt verantwortete. Insgesamt wurden vier Personen der Gruppe „Knockout 51“ festgenommen. In einer Pressemitteilung des Generalbundesanwaltes heißt es:
„Bei dieser Gruppierung handelt es sich um eine rechtsextremistische Kampfsportgruppe, die unter dem Deckmantel des gemeinsamen körperlichen Trainings junge, nationalistisch gesinnte Männer anlockt, diese bewusst mit rechtsextremem Gedankengut indoktriniert und für Straßenkämpfe ausbildet. Die Trainings finden unter der Leitung des Beschuldigten Leon R. in Eisenach regelmäßig in den Räumlichkeiten der Landesgeschäftsstelle der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), dem ‚Flieder Volkshaus‘, statt. […] In Eisenach versuchten die Mitglieder von ‚Knockout 51‘, einen sogenannten ‚Nazi-Kiez‘ zu schaffen und sich dort als bestimmende Ordnungsmacht zu etablieren.“
Wichtige Netzwerktreffen und die Kampfsporttrainings der von den Razzien und Festnahmen betroffenen Neonazis fanden in der NPD-Landesgeschäftsstelle in Eisenach statt. Das Thüringen zukünftig wieder vermehrt Aktivitäts-Schwerpunkt der NPD sein könnte, zeigte der Bundesparteitag Mitte Mai in Hessen. Mit Thorsten Heise aus Fretterode und Sebastian Schmidtke aus Südthüringen sind nicht nur zwei der drei stellvertretenden Vorsitzenden aus dem Freistaat, sondern auch der neugewählte Bundesorganisationsleiter Patrick David Wieschke aus Eisenach. Wieschke wurde Anfang Juli außerdem erneut zum NPD-Landesvorsitzenden in Thüringen gewählt.
Eine der wichtigsten Thüringer Neonazi-Gruppen sind die „Turonen/Garde 20“. Die selbsternannte Bruderschaft bewegt sich zwischen Neonazi-Netzwerken und organisierter Kriminalität und ist bereits seit dem Überfall auf die Kirmesgesellschaft im kleinen Ort Ballstädt im Landkreis Gotha bundesweit bekannt. Nach einem langwierigen Prozess wurden die Urteile bezüglich des brutalen Überfalls in Ballstädt im Februar 2022 rechtskräftig. Sie liegen zumeist erheblich unter den Urteilen, zu welchen die Neonazis in der ersten Instanz verurteilt wurden. Die „Turonen“ sind auch im Fokus der Sicherheitsbehörden, da sich die Gruppe mutmaßlich auch im Bereich der organisierten Kriminalität bewegt.
So kam es sowohl Anfang 2021 als auch im Juni 2022 zu umfangreichen Razzien, bei denen Waffen, Drogen und erhebliche Summen Bargeld gefunden wurden. Ein großer Teil der Gruppierung sitzt nun in Haft. Damit dürfte, falls es zu nennenswerten Urteilen kommt, die Gruppe in naher Zukunft bei der Organisation neonazistischer Veranstaltungen keine größere Rolle mehr spielen.
Pandemie-Leugner:innen: Ukraine, Mobilisierungseinbruch und Verschwörungsideologie
Die Proteste der Pandemie-Leugner*innen-Szene in Thüringen erreichten zu Beginn des Jahres 2022 ihren Höhepunkt. Mitunter konnten thüringenweit bei rund 80 Versammlungen an einem Tag bis zu 20.000 Teilnehmenden gezählt werden. Besonders die Zusammenkünfte in Gera, Eisenach, Gotha und Greiz zogen überregional Teilnehmende an. Ähnlich der extrem rechten Gruppierung „Freie Sachsen“ entwickelte sich zu Beginn des Jahres die Initiative „Freies Thüringen“, ein loser Zusammenschluss der bekannten lokalen Gruppierungen der Pandemie-Leugner*innen-Szene aus zahlreichen Thüringer Städten unter Beteiligung von Akteur*innen aus der extremen Rechten. Im weiteren Verlauf zur Jahresmitte hin sanken der Umfang der Teilnehmenden an den Versammlungen beachtlich. Außer Gera, wo auch im Sommer noch 2-300 Personen an den Demonstrationen teilnehmen, sind die Aufmärsche ganz verschwunden oder auf wenige Dutzend Teilnehmende geschrumpft.
Mit Kriegsbeginn in der Ukraine Ende Februar 2022 erweiterte sich das mit den Protesten bediente Themenspektrum. Wenig überraschend fanden in den bekannten Verschwörungserzählungen z.B. des „Great Reset“ die aktuellen Geschehnisse ihren Platz wie eine angeblich gefälschte Berichterstattung seriöser Medien. Anliegen der Pandemie-Leugner*innen rund um Corona-Schutzmaßen traten in den Hintergrund. Neben vereinzelten Solidaritätsaktionen von Akteuren der Neonazi-Szene wie dem Sammeln von Lebensmitteln und Verbrauchsgütern für Kriegsbetroffene in der Ukraine dominierten in der Pandemie-Leugner*innen-Szene Sympathiebekundungen gegenüber Wladimir Putin und eine Positionierung an der Seite Russlands. Ihrer Betrachtung nach sei der autoritäre starke Mann der Gegenentwurf zum Feindbild der pluralistischen Gesellschaft. Hinzu kamen geschürte Ängste vor einer bevorstehenden unzureichenden Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln in Thüringen. Inmitten einer gesellschaftlich breiten solidarischen Unterstützung von Hilfesuchenden aus der Ukraine zeigten sich bei der Pandemie-Leugner*innen-Szene wiederholt rassistische Ressentiments gegenüber Geflüchteten in Thüringen.
Bei der AfD Thüringen war der Versuch einer Selbstinszenierung als Stimme sozialer Proteste deutlich zu erkennen. Es wurde betont, die parlamentarische Vertretung des Protestes auf der Straße darzustellen. Neben einer landesweiten Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren gegen eine potenzielle Corona-Impfpflicht unterstützten AfD-Mandatsträger von kommunaler Ebene, der AfD-Landtagsfraktion bis hin zu den Thüringer AfD-Direktkandidaten des Bundestags an wechselnden thüringer Orten die zumeist unangemeldeten Versammlungen. Neben der Beteiligung an den Protesten der Pandemie-Leugner*innen-Szene ist die AfD auch jenseits von Wahlkämpfen in Thüringen mit zahlreichen Infoständen nahezu täglich präsent. In den letzten Monaten fanden thüringenweit, wenn auch mit Schwerpunkten, dutzende Infostände statt. Die extrem rechte Partei versucht damit auch jenseits der Parlamente ihren Anspruch auf die Erringung einer kulturellen Hegemonie umzusetzen und sich als Kümmerer-Partei zu inszenieren. Thematisch greift die Partei dabei offensichtlich vor allem Themen auf, die geeignet sind, diese mit der extrem rechten Ideologie zu verbinden und Ängste zu schüren.
Neben der AfD Thüringen agierten im Zeitraum der Corona-Pandemie neugegründeten Parteien wie DIE BASIS oder Bürger für Thüringen innerhalb der rechtsoffenen Pandemie-Leugner*innen-Szene.
1 Ausführlich zur völkisch-nationalistischen Ausrichtung der Thüringer AfD vgl. Steiner, F. & Michelsen, D.: Die AfD in Thüringen: Völkischer Nationalismus als Programm, In: ezra, MOBIT, IDZ, KomRex: Thüringer Zustände – Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Freistaat Thüringen, Fakten und Analysen 2020. Online abrufbar unter: thueringer-zustaende.de
Seit 2005 führt MOBIT eine Chronik extrem rechter Aktivitäten, um zu dokumentieren, wie die extreme Rechte agiert und – zumindest in der Tendenz – um Entwicklungen über die Jahre abzubilden. Die Quellen, aus denen sich die Chronik speist, sind ausschließlich öffentlich zugänglich. Im Schnitt dokumentierten wir dabei pro Jahr zwischen rund 300 bis zu etwas über 600 Veranstaltungen, Sachbeschädigungen, Konzerte usw. Die bisherigen Höhepunkte in den Jahren vor 2021 lagen bei 650 Aktivitäten pro Jahr. In den letzten Jahren hat sich die Zahl kontinuierlich erhöht: Dies lag zum einen am Auftreten der AfD1, die eine deutlich größere Zahl an Veranstaltungen durchführt, als es die NPD selbst zu ihren Hochzeiten jemals getan hat. Zum anderen liegt es an den sehr hohen Aktivitätszahlen der Pandemie-Leugner:innen-Szene, die teils pro Tag bis zu 80 Demonstrationen durchgeführt haben. Insgesamt wurden daher für das vergangene Jahr 1.755 extrem rechte Aktivitäten durch MOBIT in Thüringen erfasst.
Um auch zukünftig die Schwerpunkte extrem rechter Aktivitäten in Thüringen aufzuzeigen und zu dokumentieren, beginnen wir heute mit dem neuen Format: „Im Blick – Thüringens extrem rechte Szene“. Geplant ist ein vierteljährlicher Erscheinungsturnus der Dokumentation.
Neonazi-Szene: Zwischen RechtsRock, Demonstrationen und Militanz
Das Jahr 2022 hat seinen Mittelpunkt bereits überschritten. Immer noch ist der Kontext, in dem auch die extrem rechte Szene agiert, die Corona-Pandemie und seit Februar 2022 der Überfall Russlands auf die Ukraine und ein seither andauernder Krieg und dessen Auswirkungen in Europa. Auch in der Neonazi-Szene gab es seit Beginn des Ukraine-Krieges heftige Debatten über die Beurteilung der Lage. Besonders die antisemitischen Erklärungsmuster innerhalb der Neonazi-Szene stachen hervor. Im Kern wurden antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet, die als Verantwortliche für den Krieg vor allem geheime Mächte und jüdische Personen ausmachten. Ein großer Teil der in Thüringen ansässigen Neonazi-Gruppen, wie die Neue Stärke Partei oder Der Dritte Weg, positionierten sich deutlich pro-ukrainisch. Dies liegt offenbar auch an den seit Jahren bestehenden Kontakten zum bzw. in das Umfeld des Asow-Regimentes oder anderer Verbindungen zur Ukraine.
Durch die verschiedenen Streitigkeiten innerhalb der Neonazi-Szene zeigt sich diese im Freistaat deutlich zerrüttet. Neben Kameradschaftsstrukturen sind es vor allem die Parteien Der Dritte Weg, die NPD und die Neue Stärke Partei, die in Thüringen agieren.
Die Neonazi-Kleinstpartei Der Dritte Weg hatte bis 2020 seinen Aktivitätsschwerpunkt in Erfurt und verfügte hier auch über eine mehrere hundert Quadratmeter große Immobilie. Nach einer Abspaltung verlor die Organisation sowohl einen großen Teil ihrer Unterstützer als auch die Immobilie. Die Partei eröffnete in Ohrdruf im Februar 2022 ein neues Bürgerbüro, welches seither Ausgangspunkt verschiedener Aktivitäten ist. Dazu gehören „Bürgersprechstunden“ ebenso wie ein „Skat- und Dartabend“ oder die kostenlose Verteilung von Schulmaterial an „Deutsche“. In Ohrdruf ist es vor allem der Partei-Funktionär Max-Joseph Matthieß, der öffentlich wahrzunehmen ist. Dabei sind die Aktivitäten der Neonazi-Kleinstpartei stark auf den Landkreis Gotha und die angrenzende Landeshauptstadt Erfurt begrenzt. Dies dürfte nicht zuletzt auch an dem sehr überschaubaren Personalumfang der Partei liegen.
Durch eine Abspaltung im Jahr 2020/21 war aus dem Dritten Weg die Neonazi-Gruppe und später (November 2021) als Partei organisierte Neue Stärke Partei hervorgegangen. Die Gruppe rund um die Neonazis Michel Fischer und Enrico Biczysko hat in Thüringen ihre Aktivitätsschwerpunkte in Erfurt und Gera. Bei den Aktivitäten handelt es sich zumeist um die Durchführung von Infoständen, Demonstrationen und Familienfesten. Sowohl die Symbolik als auch das öffentlich-strategische Vorgehen ähnelt sehr deutlich denen des Dritten Weges. Nachdem die Neonazis der Neuen Stärke bereits Ende 2020 ihre Immobilie in Erfurt verloren hatten, gelang es ihnen bisher nicht, eine ähnlich nutzbare Immobilie anzumieten. Nach der Nutzung eines Lagerraumes gab die Partei die Anmietung eines rund 25qm großen Büros in einem Erfurter Außenbezirk bekannt, welches sich für Veranstaltungen kaum eignen dürfte und bereits vom Vermieter wieder gekündigt wurde. Die zentrale Demonstration der Neuen Stärke Partei findet jährlich am 1. Mai statt. Nach einem kurzen Mobilisierungshoch im Jahr 2021, als rund 300 Neonazis zur Demonstration nach Erfurt anreisten, geht die Mobilisierungskraft der Gruppe stetig zurück. Im August 2021 in Weimar und am 1. Mai 2022 in Erfurt konnte die Gruppe nur noch rund 130 Personen mobilisieren. Diese reisten vor allem aus Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen an.
Die Demonstration am 1. Mai 2022 zeigte neben der geringen bundesweiten Mobilisierungskraft der Neuen Stärke vor allem auch, welche Neonazi-Gruppierungen in den vorangegangenen Monaten in Thüringen entstanden sind und an der Demonstration teilnahmen. Dazu zählt beispielsweise die Gruppe „Treuebund“ aus dem Raum Sonneberg, die sich um die RechtsRock-Band Unbeliebte Jungs gesammelt hat. In einer von ihnen genutzten Immobilie in Sonneberg finden regelmäßig Treffen und auch Konzerte statt. Zuletzt konnte die Polizei im Juli ein unangemeldetes Konzert und Übergriffe verhindern. Neben dem „Treuebund“ nahm auch die Gruppe „Kollektiv – Zukunft schaffen – Heimat schützen“ an der Demonstration am 1.Mai 2022 in Erfurt teil und stellte auch einen Redner. Die Gruppe rekrutiert sich vor allem aus Neonazis aus dem Raum Coburg und verfügt über personellen Anschluss an die Neonazi-Band Sleipnir. Die Gruppe trat in den letzten Monaten öfter auch bei Demonstrationen der Neonazi-Szene in Thüringen auf und hat ebenfalls Verbindungen nach Sonneberg.
Die NPD ist als thüringenweit aktive Partei schon seit Jahren kaum noch wahrzunehmen. Ihr Aktivitätsschwerpunkt liegt in Eisenach, wo die Partei nicht nur eine ihrer Hochburgen hat (10,2%-Punkte bei der letzten Stadtratswahl), sondern seit 2014 auch über eine Landesgeschäftsstelle verfügt. Das Haus ist in den letzten Jahren ein zentraler Angelpunkt der regionalen und überregionalen Neonazi-Szene geworden. Hier fanden Konzerte, Vortragsabende, Discoparties und auch Kampfsporttrainings für die militante Kameradschaftsszene rund um die Gruppe „Knockout 51“ statt. Die Immobilie ist laut MOBIT-Zählung einer der meistgenutzten Räume der extrem rechten Szene im Freistaat. Anfang April kam es in Eisenach und anderen Städten zu Razzien und Festnahmen, welche der Generalbundesanwalt verantwortete. Insgesamt wurden vier Personen der Gruppe „Knockout 51“ festgenommen. In einer Pressemitteilung des Generalbundesanwaltes heißt es:
„Bei dieser Gruppierung handelt es sich um eine rechtsextremistische Kampfsportgruppe, die unter dem Deckmantel des gemeinsamen körperlichen Trainings junge, nationalistisch gesinnte Männer anlockt, diese bewusst mit rechtsextremem Gedankengut indoktriniert und für Straßenkämpfe ausbildet. Die Trainings finden unter der Leitung des Beschuldigten Leon R. in Eisenach regelmäßig in den Räumlichkeiten der Landesgeschäftsstelle der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), dem ‚Flieder Volkshaus‘, statt. […] In Eisenach versuchten die Mitglieder von ‚Knockout 51‘, einen sogenannten ‚Nazi-Kiez‘ zu schaffen und sich dort als bestimmende Ordnungsmacht zu etablieren.“
Wichtige Netzwerktreffen und die Kampfsporttrainings der von den Razzien und Festnahmen betroffenen Neonazis fanden in der NPD-Landesgeschäftsstelle in Eisenach statt. Das Thüringen zukünftig wieder vermehrt Aktivitäts-Schwerpunkt der NPD sein könnte, zeigte der Bundesparteitag Mitte Mai in Hessen. Mit Thorsten Heise aus Fretterode und Sebastian Schmidtke aus Südthüringen sind nicht nur zwei der drei stellvertretenden Vorsitzenden aus dem Freistaat, sondern auch der neugewählte Bundesorganisationsleiter Patrick David Wieschke aus Eisenach. Wieschke wurde Anfang Juli außerdem erneut zum NPD-Landesvorsitzenden in Thüringen gewählt.
Eine der wichtigsten Thüringer Neonazi-Gruppen sind die „Turonen/Garde 20“. Die selbsternannte Bruderschaft bewegt sich zwischen Neonazi-Netzwerken und organisierter Kriminalität und ist bereits seit dem Überfall auf die Kirmesgesellschaft im kleinen Ort Ballstädt im Landkreis Gotha bundesweit bekannt. Nach einem langwierigen Prozess wurden die Urteile bezüglich des brutalen Überfalls in Ballstädt im Februar 2022 rechtskräftig. Sie liegen zumeist erheblich unter den Urteilen, zu welchen die Neonazis in der ersten Instanz verurteilt wurden. Die „Turonen“ sind auch im Fokus der Sicherheitsbehörden, da sich die Gruppe mutmaßlich auch im Bereich der organisierten Kriminalität bewegt.
So kam es sowohl Anfang 2021 als auch im Juni 2022 zu umfangreichen Razzien, bei denen Waffen, Drogen und erhebliche Summen Bargeld gefunden wurden. Ein großer Teil der Gruppierung sitzt nun in Haft. Damit dürfte, falls es zu nennenswerten Urteilen kommt, die Gruppe in naher Zukunft bei der Organisation neonazistischer Veranstaltungen keine größere Rolle mehr spielen.
>> Eine ausführliche Dokumentation über die „Turonen“ und ihr Netzwerk gibt es bei MDR Investigativ: Braunes Gift – Das Drogenkartell der Neonazis
Pandemie-Leugner:innen: Ukraine, Mobilisierungseinbruch und Verschwörungsideologie
Die Proteste der Pandemie-Leugner*innen-Szene in Thüringen erreichten zu Beginn des Jahres 2022 ihren Höhepunkt. Mitunter konnten thüringenweit bei rund 80 Versammlungen an einem Tag bis zu 20.000 Teilnehmenden gezählt werden. Besonders die Zusammenkünfte in Gera, Eisenach, Gotha und Greiz zogen überregional Teilnehmende an. Ähnlich der extrem rechten Gruppierung „Freie Sachsen“ entwickelte sich zu Beginn des Jahres die Initiative „Freies Thüringen“, ein loser Zusammenschluss der bekannten lokalen Gruppierungen der Pandemie-Leugner*innen-Szene aus zahlreichen Thüringer Städten unter Beteiligung von Akteur*innen aus der extremen Rechten. Im weiteren Verlauf zur Jahresmitte hin sanken der Umfang der Teilnehmenden an den Versammlungen beachtlich. Außer Gera, wo auch im Sommer noch 2-300 Personen an den Demonstrationen teilnehmen, sind die Aufmärsche ganz verschwunden oder auf wenige Dutzend Teilnehmende geschrumpft.
Mit Kriegsbeginn in der Ukraine Ende Februar 2022 erweiterte sich das mit den Protesten bediente Themenspektrum. Wenig überraschend fanden in den bekannten Verschwörungserzählungen z.B. des „Great Reset“ die aktuellen Geschehnisse ihren Platz wie eine angeblich gefälschte Berichterstattung seriöser Medien. Anliegen der Pandemie-Leugner*innen rund um Corona-Schutzmaßen traten in den Hintergrund. Neben vereinzelten Solidaritätsaktionen von Akteuren der Neonazi-Szene wie dem Sammeln von Lebensmitteln und Verbrauchsgütern für Kriegsbetroffene in der Ukraine dominierten in der Pandemie-Leugner*innen-Szene Sympathiebekundungen gegenüber Wladimir Putin und eine Positionierung an der Seite Russlands. Ihrer Betrachtung nach sei der autoritäre starke Mann der Gegenentwurf zum Feindbild der pluralistischen Gesellschaft. Hinzu kamen geschürte Ängste vor einer bevorstehenden unzureichenden Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln in Thüringen. Inmitten einer gesellschaftlich breiten solidarischen Unterstützung von Hilfesuchenden aus der Ukraine zeigten sich bei der Pandemie-Leugner*innen-Szene wiederholt rassistische Ressentiments gegenüber Geflüchteten in Thüringen.
Bei der AfD Thüringen war der Versuch einer Selbstinszenierung als Stimme sozialer Proteste deutlich zu erkennen. Es wurde betont, die parlamentarische Vertretung des Protestes auf der Straße darzustellen. Neben einer landesweiten Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren gegen eine potenzielle Corona-Impfpflicht unterstützten AfD-Mandatsträger von kommunaler Ebene, der AfD-Landtagsfraktion bis hin zu den Thüringer AfD-Direktkandidaten des Bundestags an wechselnden thüringer Orten die zumeist unangemeldeten Versammlungen. Neben der Beteiligung an den Protesten der Pandemie-Leugner*innen-Szene ist die AfD auch jenseits von Wahlkämpfen in Thüringen mit zahlreichen Infoständen nahezu täglich präsent. In den letzten Monaten fanden thüringenweit, wenn auch mit Schwerpunkten, dutzende Infostände statt. Die extrem rechte Partei versucht damit auch jenseits der Parlamente ihren Anspruch auf die Erringung einer kulturellen Hegemonie umzusetzen und sich als Kümmerer-Partei zu inszenieren. Thematisch greift die Partei dabei offensichtlich vor allem Themen auf, die geeignet sind, diese mit der extrem rechten Ideologie zu verbinden und Ängste zu schüren.
Neben der AfD Thüringen agierten im Zeitraum der Corona-Pandemie neugegründeten Parteien wie DIE BASIS oder Bürger für Thüringen innerhalb der rechtsoffenen Pandemie-Leugner*innen-Szene.
1 Ausführlich zur völkisch-nationalistischen Ausrichtung der Thüringer AfD vgl. Steiner, F. & Michelsen, D.: Die AfD in Thüringen: Völkischer Nationalismus als Programm, In: ezra, MOBIT, IDZ, KomRex: Thüringer Zustände – Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Freistaat Thüringen, Fakten und Analysen 2020. Online abrufbar unter: thueringer-zustaende.de